Präambel
In der gegenwärtigen Bildungsdebatte sind auch vor dem Hintergrund internationaler Studien die Bedeutung der Bildung von Kindern in
den frühen Jahren und der Bildungsauftrag von Tageseinrichtungen für Kinder neu in den Blickpunkt gesellschaftlichen Interesses
gerückt. Nachhaltige Reformen müssen in der frühen Kindheit ansetzen. Deshalb haben sich das Kultusministerium und das
Sozialministerium sowie die kommunalen Landesverbände, die kirchlichen und sonstigen Trägerverbände in
Baden-Württemberg darauf verständigt, gemeinsam für die Stärkung des Bildungsortes Kindertageseinrichtung einzutreten
und einen Orientierungsplan für frühkindliche Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen sowie Umsetzungsschritte mit
einem Zeitplan zu entwickeln.
Der Orientierungsplan richtet sich an die pädagogischen Fachkräfte und die Träger der Tageseinrichtungen. Zugleich soll der
Orientierungsplan dazu beitragen, die Zusammenarbeit zwischen Tageseinrichtungen und Eltern zu intensivieren.
Grundlagen
Das Sozialgesetzbuch, VIII. Buch, Kinder- und Jugendhilfegesetz, beschreibt in § 22 entsprechend der Geschichte des Kindergartens
in Deutschland Betreuung, Erziehung und Bildung als Aufgabe der Tageseinrichtungen für Kinder. Über Ausformung und Umsetzung des
Bildungsauftrags der Tageseinrichtungen für Kinder besteht eine breite Verständigung der Länder. So haben die
Jugendministerkonferenz und die Kultusministerkonferenz einen gemeinsamen Rahmen der Länder für die frühe Bildung in
Kindertageseinrichtungen verabschiedet.
Das novellierte Kindergartengesetz Baden-Württemberg (KGaG) greift den Bildungsauftrag in Tageseinrichtungen in § 2 Abs. 2
ausdrücklich auf und unterstreicht dessen Bedeutung für die Förderung der Gesamtentwicklung des Kindes. In § 9 Abs. 2
KGaG wird die zentrale Rolle der Sprachförderung betont.
Der gemeinsam zu erarbeitende Orientierungsplan für frühkindliche Bildung und Erziehung basiert auf dem gemeinsamen Rahmen der
Länder, berücksichtigt die innovativen Entwicklungen der baden-württembergischen Kindertageseinrichtungen und legt im Sinne
von § 9 Abs. 2 KGaG die Zielsetzungen für die Elementarerziehung fest. Entsprechend den Prinzipien von Pluralität,
Trägerautonomie und Konzeptionsvielfalt steht es in der Verantwortung der Träger und Einrichtungen, wie diese Ziele im
pädagogischen Alltag erreicht werden.
Der zu entwickelnde Orientierungsplan berücksichtigt die Erkenntnisse internationaler Studien und die Ergebnisse der öffentlichen
Anhörung des Schulausschusses des baden-württembergischen Landtags am 4. Juli 2003.
Kinder in ihren Bildungsprozessen begleiten
Pädagogik, Entwicklungspsychologie und In neuerer Zeit die Gehirnforschung haben die Bildungsfähigkeit von Kindern von Geburt
an und die Kindheit als wohl lern intensivste Zeit in der Biografie eines Menschen in den Blick gerückt.
Je aufmerksamer Erwachsene auf die frühen Bildungserfahrungen jedes einzelnen Kindes eingehen, desto besser kann das Kind ein
Gefühl von Selbstwirksamkeit entwickeln, das die Grundlage für eine lernende Lebenseinstellung ist.
Gemeinsam tragen Familien, Bildungseinrichtungen, gesellschaftliche Gruppen und Politik Verantwortung für eine Kultur des Aufwachsens,
in der sich alle Kinder in Baden-Württemberg geborgen fühlen und unbeschwert entwickeln können.
Tageseinrichtungen haben einen eigenständigen Bildungsauftrag, der der Unterschiedlichkeit und Ungleichzeitigkeit kindlicher
Bildungsprozesse gerecht werden muss. Ganzheitliche Förderung ist deshalb pädagogisches Prinzip in Kindertageseinrichtungen und
trägt den individuellen Entwicklungen und Potenzialen der Kinder Rechnung.
Spielen und Lernen sind insbesondere bei kleinen Kindern untrennbar miteinander verbunden. Kinder sind in ihrem Forschergeist, ihrer
spielerischen Entdeckerfreude und Erfindungsgabe sowie in ihrer Freude am Lernen ernst zu nehmen. Kinder brauchen in ihrer Art, die Welt zu
entdecken, zu verstehen und zu deuten verlässliche, zum Dialog fähige Erwachsene, die sie akzeptieren, in ihrer Entwicklung
begleiten und gezielt fördern. Eine anregungsreiche Umgebung, in der Kinder von- und miteinander spielend lernen können,
unterstützt die entwicklungsangemessene Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit. Vielfalt und Unterschiedlichkeit in der
Kindergruppe eröffnen Bildungschancen.
Zusammenwirken von pädagogischen Fachkräften, Eltern und Institutionen
Fachkräfte ergänzen und unterstützen die Erziehung und Bildung in der Familie. Kinder brauchen heute beides: eine ihrem
Alter entsprechende Förderung in erster Linie in der Familie, aber auch in der Tageseinrichtung.
Tageseinrichtung und Familie sollten sich deshalb mehr als bisher bei der Zielbestimmung für die pädagogische Arbeit und bei der
Beobachtung der kindlichen Entwicklungs- und Bildungsprozesse abstimmen. Werden die Familien mit ihren je individuellen Interessen,
besonderen Lebensverhältnissen und Herkunftskulturen wahr und ernst genommen, entsteht eine neue Qualität der Zusammenarbeit im
Sinne von Erziehungspartnerschaft. Eine solche Zusammenarbeit ist insbesondere wichtig für die Kinder, deren Startchancen verbessert
werden müssen.
Tageseinrichtungen kooperieren mit Schulen und anderen Einrichtungen, um den Kindern einen gelingenden Übergang in die Schule zu
ermöglichen.
Tageseinrichtungen regen zur aktiven Mitwirkung von Eltern und anderen an Bildungsprozessen interessierten Personen an, können
Möglichkeiten für Familienbildung und -beratung eröffnen und informelle Netzwerke unter Eltern unterstützen. Auf diese
Weise können sich Tageseinrichtungen zu Nachbarschaftszentren in der Gemeinde und im Gemeinwesen Weiterentwickeln. Ein
Orientierungsplan für Bildung und Erziehung soll solche Entwicklungen zur Zusammenarbeit und zu bürgerschaftlichem Engagement
stärken.
Grundgedanken des Orientierungsplans
Im Orientierungsplan für Bildung und Erziehung wird das Bildungs- und Erziehungsverständnis entfaltet und der Bildungsauftrag
von Tageseinrichtungen für Kinder konkretisiert.
Grundlagen der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen, wie Wertschätzung und Akzeptanz des Kindes in seiner Person, die
ganzheitliche und entwicklungsangemessene Begleitung von Kindern werden ausgeführt ebenso wie die verschiedenen Bildungsbereiche, die
sich auf den „Gemeinsamen Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen" beziehen.
Die Bildungsbereiche stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern durchdringen sich gegenseitig, wobei die zentrale Rolle der
Sprachförderung betont wird.
Der Orientierungsplan für frühkindliche Bildung und Erziehung thematisiert darüber hinaus Bildungsprozesse von Geburt an und
die Kooperation und Verzahnung zwischen Kindertageseinrichtung und Schule und zeigt auf, wie im Sinne einer kontinuierlichen
Bildungsbiografie des Kindes die Bildungs- und Erziehungsprozesse in der Schule fortgesetzt werden können.
Entwicklung eines Orientierungsplans
Die Entwicklung des Orientierungsplans wird in einem gemeinsamen Prozess getragen und vorangetrieben, wobei innovative Einrichtungen einbezogen, konkrete Entwicklungen vor Ort berücksichtigt werden und der Selbstständigkeitsentwicklung der Kindertageseinrichtungen Rechnung getragen wird. Die Ergebnisse der interministeriellen Arbeitsgruppe „Sprachförderung im Vorschulalter" werden in den Orientierungsplan integriert. Die vorgegebenen Zielsetzungen sind für die Einrichtungen und die Träger verbindlich, lassen ihnen allerdings genügend Gestaltungsspielräume in der Umsetzung und in der Konzept- und Profilbildung.
Zeitrahmen für die Einführung des Orientierungsplans
Die Implementierung des Orientierungsplans wird innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren erfolgen. Sie beginnt im Kindergartenjahr 2005/06 auf der Grundlage eines bis Mai 2005 abgestimmten Orientierungsplans mit einer wissenschaftlich begleiteten Pilotphase, an der sich Kindertageseinrichtungen freiwillig beteiligen können. Die Umsetzung wird in allen Kindertageseinrichtungen im Kindergartenjahr 2009/2010 erfolgt sein.
Implementierung des Orientierungsplans
Die Implementierung des Orientierungsplans setzt eine fachliche Begleitung der Einrichtung durch die Fachberatung der Verbände, die
Einbeziehung von Konsultationseinrichtungen sowie eine verstärkte Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte voraus.
Begleitend zur Pilot- und Implementierungsphase wird die Qualifizierung der Fachberaterinnen, von Teams der Tageseinrichtungen sowie der
Kooperationsbeauftragten bei den Staatlichen Schulämtern und der Kooperationslehrkräfte an den Schulen durchgeführt.
Die Qualifizierung schließt insbesondere die Befähigung zur kontinuierlichen Beobachtung und Dokumentation von Bildungsprozessen
jedes einzelnen Kindes mit ein. Piloteinrichtungen dienen als Konsultationseinrichtungen und stellen sich als Gesprächspartner in dem
Prozess der schrittweisen qualitativen Weiterentwicklung von Tageseinrichtungen im Sinne des Orientierungsplans zur Verfügung.
Trägerübergreifende lokale, regionale und überregionale Bildungsnetzwerke unterstützen durch Austausch und Reflexion
diesen Prozess.
Das Land wird sich in Höhe von mindestens 50 Prozent an der Implementierung (insbesondere Qualifizierungsmaßnahmen und
wissenschaftliche Begleitung) des Orientierungsplans beteiligen.
Sensibilisierung für frühkindliche Bildungsprozesse und Öffentlichkeitsarbeit
Die Bedeutung der frühkindlichen Bildung wird von allen Unterzeichnenden ausdrücklich betont. Um das Verständnis für
die Fragestellungen der frühkindlichen Bildung und Erziehung zu verbessern und die Bedeutung ins öffentliche Bewusstsein zu
tragen, wird beginnend mit der Pilotphase bis zur Implementierung des Orientierungsplans im Jahre 2009/2010 von allen Beteiligten eine
kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit betrieben.
Stuttgart, den 30. Juli 2004